An(ge)dacht

von Pfarrerin Ann-Kristin Scholl | Oktober 2024

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“  – Psalm 90,12

Liebe Gemeinde,

 

ich nehme Sie für einen kurzen Augenblick mit auf die überdachte Terrasse unseres Pfarrhauses. Dort sitze ich auf unserer gelben Bank, eingekuschelt in meine Lieblingsstrickjacke mit einer Tasse Tee in der Hand. 

 

Aufmerksam nehme ich die Geräusche wahr: 
Ein paar kleine Regentropfen bahnen sich ihren Weg aus den losen Wolken am Himmel und fallen zaghaft auf die Wiese. 
Tiefes Windrauschen füllt meine Ohren. Die Laubblätter führen Tänze auf – mal zaghaft, mal wild. Angekleidet sind sie in den schönsten Herbstfarben der Saison: Grelles Orange, sanftes Gelb und leuchtendes Rot. Der Herbst ist da! 

 

Und wie ich da so auf meiner gelben Bank sitze, werde ich nachdenklich. Irgendwie fühle ich mich besonnen und dankbar zugleich. Dankbar für die lebendige Schöpfung in all ihrer Pracht, die mich umgibt. Und besonnen, weil ich auch in diesem Herbst nicht umhin komme an das berühmte Psalmwort aus Psalm 90 zu denken: 
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Psalm 90,12) 

 

Die leuchtenden Blätter sind nicht nur wunderschön, sondern sie erinnern mich daran, dass sich der Lebenskreislauf von Neuem schließt. 


Jedes Jahr wird das Leben erneuert! Und ich liebe es, wenn der Frühling erwacht. Ich liebe die ersten Knospen der bunten Frühlingsblumen. Ich liebe das Osterfest, das das Leben in all seiner Schönheit und Anmut feiert. 

 

Jetzt ist der Herbst wieder da. Und mindestens genauso wie den Frühling liebe ich den Herbst. Die Jahreszeit, die den anderen Übergang des Lebens spürbar macht: Vom Leben in die Vergänglichkeit. Und jedes Jahr aufs Neue, wenn die Tage wieder kürzer werden, die Sonne niedriger steht, werde ich an diese Lebensvergänglichkeit erinnert. Und das macht mich – und vielleicht auch Sie jetzt – hin und wieder melancholisch. 


Dann mache ich die weisen Worte des Psalmbeters zu meinen: „Lehre mich bedenken, Gott des Lebens, dass ich sterben muss, auf dass ich klug werde.“ 

 

Zu der Zeit des Psalmbeters gab es noch kein Ostern. In der jüdischen Vorstellung damals gab es das Leben auf Erden vor Gottes Angesicht, das sein Ende im Tod fand. Gott war dem Totenreich fern. Erst nach und nach wuchs die konkrete Vorstellung an ein Leben nach dem Tod. Doch auch, wenn wir heute jedes Jahr frühlingshaft, fröhliches Ostern feiern, gehört das Sterben zum Leben dazu. Besser später als früher erfährt dies jeder und jede von uns. 


„Auf dass ich klug werde“, bedeutet für mich dann auch: Verschwende nicht dein Leben! Nimm den Tag aus Gottes Hand, so wie er dir gegeben wird. Mit den Leichtigkeiten und Schönheiten, mit den Hürden und den Beschwernissen. Und es bedeutet auch: Lebe im Hier und im Jetzt. Lebe nicht von Wochenende zu Wochenende, nicht von Urlaub zu Urlaub. Der Alltag ist dein Leben mit allen Lebenszeiten, so wie der kluge Prediger weiß: 

 

1    „Für alles gibt es eine bestimmte Stunde.
    Und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat 
    seine Zeit:
2    Eine Zeit für die Geburt
    und eine Zeit für das Sterben.
    Eine Zeit zum Pflanzen
    und eine Zeit zum Ausreißen des Gepflanzten.
4    Eine Zeit zum Weinen
    und eine Zeit zum Lachen.
    Eine Zeit zum Klagen
    und eine Zeit zum Tanzen.“ (Kohelet 3,1-2.4) 

 

Mit dem Herbst gehen wir auf den November zu, unsere Zeit für das Totengedenken. 
Wir denken an die Verstorbenen der beiden Kriege im letzten Jahrhundert, an die Leidtragenden der gegenwärtigen Kriege und wir denken an unsere Verstorbenen ganz persönlich. 


Heilsam kann dieses Gedenken sein. Wir sperren das Sterben nicht aus. Wir verschließen uns nicht davor. Vielmehr öffnen wir dem Sterben einen Raum im Kirchenjahr. 


Mitten im Leben halten wir inne und bedenken, dass auch wir sterben müssen. Wir zünden Kerzen an als Zeichen für unseren realen Hoffnungsschein. 

 

Leben und Sterben gehören zusammen. Besonders eindrücklich erlebe ich dies in Rumänien: Dort gibt es an jeder Kirche für alle immer zugänglich zwei Schränke aus Metall: Über dem einen Schrank steht „Vii“ (Lebende) über dem anderen „Morți“ (Tote). Immer, wirklich immer brennen dort Kerzen. Dort ist der Ort, wo an die Lebenden und Toten gedacht wird zur selben Zeit, am selben Ort mit denselben Kerzen. 


Betend wenden sich die Menschen an Gott und denken an das geschenkte Leben im Hier und Jetzt, in Zukunft und über den Tod hinaus, wo wir einen Platz haben werden in Gottes guter Lebenswelt.

 

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Psalm 90,12) 

Herbstlich zuversichtliche Grüße sende ich Ihnen

 

Ihre Ann-Kristin Scholl

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